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Schlaue Pferde

Als „der kluge Hans“ gelangte er zu Weltruhm, und doch konnte er kaum tiefer stürzen: der schwarze Hengst des pensionierten Lehrers Wilhelm von Osten aus Berlin. Lange glaubte alle Welt, das Pferd könne zählen und rechnen. Bis sich das Ganze als Irrtum entpuppte.

Was macht Schlaue Pferde aus?

Dem kam ein Wissenschaftler vom Psychologischen Institut der Berliner Uni auf die Spur. Oskar Pfungst hatte seine Zweifel an den Fähigkeiten von Hans und mutmaßte, dass das Tier lediglich auf winzigste körpersprachliche Signale nicht nur seines Besitzers, sondern auch des Publikums reagierte. Also verpasste er Hans Scheuklappen und siehe da: Der Hengst war zu keiner „intelligenten“ Zähl- oder Rechenaufgabe mehr fähig. Vielmehr stellte sich heraus, dass Hans nur dann durch Klopfen mit dem Huf „sagen“ konnte, wie viel zum Beispiel zwei plus fünf ist oder wie viele Herren sich mit Zylinder unters Publikum gemischt hatten, wenn er sah, was die umstehenden Menschen taten, sobald eine Aufgabe gestellt war. Und die Menschen taten immer dasselbe: Sie richteten den Blick gespannt auf Hansens Huf (Signal zum Klopf-Beginn) und entspannten sich, den Blick vom Huf wieder lösend, sobald Hans die richtige „Klopfzahl“ erreicht hatte (Signal zum Klopf-Ende).

Schade, dass Menschen so zu Extremen neigen. Sogar die New York Times hatte über Hansens Leistungen berichtet und seine Intelligenz und Denkfähigkeit gepriesen. Nachdem sich die Geschichte jedoch als Paradebeispiel für den sogenannten „Versuchsleiter-Effekt“ outete, ging die Begeisterung nicht nur den Bach runter. Sie schlug ins komplette Gegenteil um. Nicht nur Pferden, sondern Tieren ganz allgemein wurde endgültig jegliche Fähigkeit abgesprochen, auch nur ansatzweise zu so etwas wie Intelligenz oder Denken fähig zu sein. Tiere waren fortan nichts als Automaten und weder in Lage, Gefühle zu empfinden, noch irgendwelche Überlegungen anzustellen oder ähnliches. Diese Ansichten prägen bis heute viele Teile der Wissenschaft und wirken noch immer auf breiter Front in vielen Mensch-Tier-Beziehungen. Umdenken ist eben schwer und umlernen noch schwerer.

Studienobjekt neu entdeckt

Dabei hat sich gerade auf dem Gebiet der kognitiven Ethologie in den letzten Jahren viel getan. Vergleichsweise mutige Wissenschaftler lassen sich auch von der Geschichte des klugen Hans nicht mehr lähmen und entdecken das Pferd als hochinteressantes Studienobjekt neu. Am klugen Hans können sich die Ersten dabei ebenfalls wieder begeistern. Denn auch, wenn er tatsächlich kein Stück zählen konnte, sind seine Wahrnehmungsfähigkeit und sein Vermögen, aus seinen Wahrnehmungen Schlüsse zu ziehen und Interpretationen anzustellen, regelrecht überwältigend.

Zusammenleben macht schlau

Verantwortlich für die Entwicklung solcher Fähigkeiten ist die Lebensweise des Pferdes. Pferde sind hochsozial, leben in Gruppen mit mehreren Artgenossen und einem ganz spezifischen Gefüge, mit Dominanzbeziehungen und Freundschaften. Spiegelexperimente haben bislang zwar nicht zeigen können, dass ein Pferd sich selbst im Spiegel erkannt hat. Aus solchen „Selbsterkennungen“ leiten Wissenschaftler ein Bewusstsein für die eigene Person ab, ein sogenanntes Ich-Bewusstsein. Wer sich selbst im Spiegel erkennt, so die Wissenschaft, wisse, wer er selbst sei und könne zwischen sich und anderen unterscheiden. Und sich in andere hineinversetzen. Bei Schimpansen, Elefanten oder Walen hat man das längst nachgewiesen.

Dennoch fragen sich einige Wissenschaftler, ob über ein Ich-Bewusstsein tatsächlich allein ein Spiegelexperiment Aufschluss geben kann. Immerhin kann man zwischen sich und anderen nicht nur durch das Bemühen der eigenen Augen unterscheiden, vor allem dann, wenn man ein Tier ist. Bei vielen Tieren ist der Seh-Sinn – anders als beispielsweise bei uns Menschen – nicht der Leit-Sinn. Viele Tiere verlassen sich in erster Linie auf ihre Nase, andere – etwa der Waschbär – auf ihren Tastsinn, wieder andere auf das Gehör. Bei Pinguinen etwa erkennen sich Paare, Eltern und Kinder am individuellen Ruf. Vielleicht bestehen viele Tierarten Spiegeltests nur deshalb nicht, weil sie zur Unterscheidung zwischen sich und Artgenossen andere als den Seh-Sinn einsetzen.

Wer bin ich?

Auch bei Pferden liegt dieser Gedanke nahe. Pferde haben einen erstklassigen Geruchssinn, ein feines Gehör, das nicht nur menschliche Personen am Schritt erkennen kann und ein sehr empfindliches Maul, das sie zur Erkennung von Strukturen nutzen können. Auch der Mensch macht in frühem Alter eine Entwicklungsphase durch, in der er durch „mundeln“ und nicht durch betrachten oder anfassen Dinge erkundet und erkennt. Außerdem kennen Pferde ihren Namen, so ihnen einer gegeben und verwendet wird. Und in der Regel hebt eben nur der Camillo den Kopf, wenn „Camillo“ gerufen wird. Der Fredi kommt allenfalls dazu, wenn er mitbekommt, dass der Camillo etwas zu genießen hat, dass Fredi selber auch gern hätte. Es besteht also zumindest der Verdacht, dass auch Pferde über ein Ich-Bewusstsein verfügen.

Für Tiere, die in sozialen Gruppen leben, ist die Fähigkeit, sich Gedanken zu machen, also zu denken, elementar. Geschaffen wurde sie von der Evolution. Wissenschaftler der Oxford University haben einmal die Entwicklung von Säugetiergehirnen im Verlauf der vergangenen 60 Millionen Jahre unter die Lupe genommen und festgestellt, dass das Gehirnvolumen einer Spezies dann am stärksten zugenommen hatte, wenn die Art in stabilen sozialen Verbänden lebte. An der Spitze der Statistik finden sich die Affen, dahinter folgen unter anderen Delfine, Hundeartige und eben auch Pferde.

Der Zuwachs an „Hirnschmalz“ wird allerdings kaum allein dafür notwendig sein, bei Gefahr schnell flüchten zu können und andernfalls anderen als Futter zu dienen. Welche Verschwendung wäre das! Graue Zellen braucht, wer koordinieren und kooperieren will, wer im Zusammenleben auf Regeln setzt und eine Menge lernen kann und muss, ehe er sich als erwachsen betrachten darf bzw. betrachtet werden darf. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist graduell, nicht absolut, meinte schon Darwin.

Mehr als nur „Instinkt“

Zugegeben, mancher könnte behaupten, dass das Sozialverhalten des Pferdes „instinktgesteuert“, sozusagen „angeboren“ wäre und Pferde nicht reflektierten, was sie tun. Dem widerspricht allerdings, dass sich nicht alle Pferde gleich verhalten und Einzeltiere in identischen Situationen unterschiedlich handeln können. Gibt es Zoff in der Gruppe, kann es sein, dass die übrigen Gruppenmitglieder die Streitenden einfach machen lassen.

Genauso wurde jedoch schon beobachtet, dass ein oder mehrere Gruppenmitglieder zu schlichten versuchten, einen Freund unterstützten, einen anderen bestraften oder trösteten. Für mancherlei Frust sorgt zuweilen die Fähigkeit des Pferdes, durch Beobachtung anderer zu lernen. Läuft das darauf hinaus, dass es mit einem „Beobachterpferd“ leichter ist, ein bestimmtes erwünschtes Verhalten einzuüben, das dieses beim Training mit einem anderen Pferd zuvor sehen konnte, mag man sich freuen.

Wenn sich der Protagonist aber abschaut, wie man zum Beispiel heimlich Türen und Tore oder Futterbehälter öffnet, sieht das ganz anders aus. Interessanterweise schauen sich Pferde nur von ranghöheren Artgenossen diverse „Tricks“ ab, nicht von Individuen, die in der Rangordnung der Gruppe unter ihnen stehen. Auch das ist übrigens ein Hinweis auf ein Ich-Bewusstsein. Pferde können jedoch nicht nur von Artgenossen durch Imitation lernen, sondern auch von Menschen.

Die Fähigkeit abstrakt zu denken, besitzen sie ebenfalls. So präsentierten Wissenschaftler der Uni Göttingen Shetland-Ponys verschiedene Symbole auf einem Bildschirm. Die Ponys sollten nun einen Button bedienen, wenn zwei der Symbole identisch waren. Richtige „Antworten“ wurden mit einem Leckerchen belohnt. Die Ponys hatten keinerlei Schwierigkeiten, die Aufgabe zu bewältigen. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass sie in Kategorien wie „gleich“ und „ungleich“ denken können.

Noch vergleichsweise jung ist die Beobachtung, dass Pferde auch Werkzeuge benutzen. Zumindest, wenn man das Aufsuchen von „Kratzbäumen“ und ähnlichem nicht gleich als Werkzeuggebrauch einstufen will. Zwei Tierärzte einer Pferdeklinik haben beispielsweise beobachtet, wie ein Wallach mit einem Stöckchen versuchte, an Heu aus einem Zwischenraum unter einer Futterkrippe zu gelangen. Doch damit nicht genug: Nach einiger Zeit fiel ein Maultier auf, das dieses Verhalten auch noch kopierte.

Wie sagte letzthin der bekannte Ethologe Marc Bekoff: „Anders zu fühlen heißt nicht, nicht zu fühlen, und nicht machen heißt nicht, nicht zu können.“ Bleiben wir also offen, schauen wir hin und lassen wir uns überraschen. Immer wieder aufs Neue!

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